41. Tag
Pedrouzo – Santiago 19 Km (4,5 Stunden)
Um 6:30 Uhr rappelte der Wecker und ich war direkt hellwach und sehr emotional und vergoss bereits die ersten Tränen, noch ehe der Tag so richtig begonnen hatte. Heute sollte also der Tag sein, auf den ich so zielstrebig hingearbeitet und für den ich seit Tagen an und über meine physischen Grenzen gegangen war. Insgeheim hatte ich ja gehofft, dass ich am letzten Tag vielleicht doch noch mal schmerzfrei laufen könnte, aber dieser Wunsch erfüllte sich leider nicht. Egal, ich wollte in Santiago einlaufen und nun war ich nur noch 19 Kilometer von meinem großen Ziel entfernt. Würde ich tatsächlich in wenigen Stunden in Santiago ankommen? Ich war innerlich so aufgeregt und behandelte direkt nach dem Aufwachen meine Beine mit allen möglichen Salben und aß schnell eine Kleinigkeit damit ich meinen Schmerztapletten Cocktail frühzeitig einnehmen konnte. Das rechte Bein fühlte sich nicht gut an und so konnte ich auch nicht wirklich rund laufen. Die letzten zwei Tage vor der abschließenden Etappe hatte ich ja meinen Rucksack mit einem Lieferservice vorausgeschickt und so müsste ich jetzt nur noch den beigefügten Zettel ausfüllen und den neuen Zielort und die Unterkunftadresse eintragen. Angele und Regula schauten mich stattdessen leicht irritiert an, als ich plötzlich meinen Rucksack aufsetzte und damit Richtung Tür lief. Ich wollte wie ein echter Pilger in Santiago einlaufen und in meinen Augen gehört bei einem echten Pilger der Rucksack nun mal auf den Rücken. Es war meine Entscheidung und so verließen wir alle drei mit unseren Rucksäcken auf dem Rücken unsere Unterkunft. Das Bein war wie erwähnt schmerzhaft und nach zwei Tagen ohne das zusätzliche Gewicht auf dem Rücken übte der Rucksack direkt spürbaren Druck auf das lädierte Schienbein aus. Ich zweifelte plötzlich und fragte mich, ob meine Entscheidung evtl. doch falscher Ehrgeiz war und entschied plötzlich doch ohne Gepäck laufen zu wollen. In unsere Unterkunft konnten wir jetzt allerdings nicht mehr zurück, sollten wir die Schlüssel doch im Zimmer lassen und die Türe von außen zu ziehen. Nur wenige Meter weiter waren zwei weitere Pilgerherbergen, die man allerdings nur mit einem Zahlencode betreten konnte, der wohl am Vorabend an die eingecheckten Pilger vergeben wurde. Kurzum, wir fanden nun keine Möglichkeit mehr mein Gepäck transportieren zu lassen und so hieß es für mich mit den zusätzlichen 12 Kilogramm auf den Schultern den Weg nach Santiago anzutreten. Jeder Schritt schmerzte und schnell versuchte ich mit einer weiteren Schmerzablette den Schmerz zu unterdrücken. Obwohl nicht rund laufend, ging ich recht zügig, weil selbst so kurz vorm Ziel keine Sicherheit da war, dass ich tatsächlich ankommen würde. Irgendwann waren die ersten fünf Kilometer geschafft und so arbeitete ich mich Kilometer um Kilometer näher an mein großes Ziel und die letzte Etappe schien plötzlich noch mal endlos lang zu sein. Immer wieder überkamen mich die Gefühle und während ich in der einen Minute sehr glücklich war, liefen mir in der nächsten Minute die Tränen übers Gesicht. Es war eine Achterbahnfahrt der Gefühle und schließlich erreichten wir den höchsten Punkt, von wo aus man erstmals Santiago sehen konnte. Da war es also plötzlich in Sichtweite und ich wollte nur noch ankommen. Irgendwann erreichten wir Santiago und nun ging es noch ca. vier Kilometer durch die Stadt, wo die Kathedrale im Stadtzentrum das Ziel aller Pilger ist. Nur noch wenige Meter bis zur Kathedrale und leicht hinkend bahnte ich meinen Weg durch die Gassen und plötzlich war da fast eine Leere in mir. Es waren im Moment der Ankunft zu viele Emotionen und es schien, als könne ich nicht alles auf einmal verarbeiten. Ich war völlig erschöpft, unendlich glücklich, ich hatte über Tage starke Schmerzen ausgehalten, ich war erleichtert und gleichzeitig auch sehr traurig, weil nun mit einem Schlag dieser großartige Weg zu Ende war. Es war einfach zu viel für einen Moment und so musste ich in der einen Sekunde lachen, um im nächsten Augenblick in Tränen auszubrechen. Es war ein großes Gefühlschaos und es lief wie eine Art Film fast an mir vorbei. Menschen trafen ein, es wurde gefeiert, es wurde gelacht, geweint und der Platz vor der Kathedrale füllte sich zusehends mit Menschen aus den verschiedensten Ländern. Ich hatte es geschafft, wir hatten es geschafft! Unfassbar, ich bin in 41 Tagen 840 Kilometer von Irun nach Santiago gelaufen und nun? Tage und Wochen war da dieses eine große Ziel und plötzlich war es erreicht. Welch Erleichterung und gleichzeitig auch Ernüchterung. Mir ist klar, dass es wahrscheinlich noch Tage und vielleicht auch Wochen dauern wird bis ich alles realisiert und verarbeitet habe. Der eine Moment der Ankunft reicht unmöglich aus, um all die unterschiedlichsten Emotionen darin verpacken zu können. Ich werde daher in der nächsten Zeit große Freude und Zufriedenheit empfinden, mit stolz auf mein Erreichtes blicken, die körperliche Erschöpfung spüren und eine, durch die Ankunft entstandene Leere verarbeiten und auf ein insgesamt großartiges Abenteuer voller Dankbarkeit zurück schauen.
Es war der Trip meines Lebens und ich möchte keine einzige Sekunde davon missen. Ich habe einen Traum gelebt und bin nicht mehr der gleiche Mensch, der sich auf diese Reise begeben hat und das ist auch gut so. Der Camino hat mich voran gebracht und mich zu mir selbst geführt und dies bereits schon vor der Ankunft in Santiago.
Erfahrt Morgen wie es nach der Ankunft in Santiago weiter ging und vor allem wie sich der erste Tag danach angefühlt hat und wie ich den Abschied von Santiago, Angele, Regula und den anderen Pilgern empfunden habe.
2 Kommentare
Wendy Köhler
Lieber Andreas Es ist nicht zu fassen das Du dein Ziel erreicht hast . Herzlichen Glückwünschen dein Mutter.
Brutus
Gratuliere – ich habe das Martyrium etwas verfolgt – und bin auch fasziniert, dass man heutzutage quasi live anderen beim Pilgern zuschauen kann. Ich habe mich manchmal aber auch gefragt, ob die permanente Möglichkeit sich der Welt mitzuteilen und in Kontakt zu treten nicht das Pilgererlebnis etwas vom Kontemplativen befreit – also von der harten Begegnung mit sich selbst, die intensiver wird, wenn andere dabei weder als Gegenüber noch als Projektionsfläche zur Verfügung stehen. Nur so als Gedanke…