Jakobsweg

42. Tag

Santiago

Nach dem Gefühlschaos bei Ankunft an der Kathedrale in Santiago standen, lagen und saßen wir längere Zeit auf dem Vorplatz und jeder versuchte auf seine Art die ganzen Emotionen zu verarbeiten. Es wurde gelacht, geweint, gesungen, getanzt, neu ankommende Pilger begrüßt, Fotos geschossen, gesprochen, geschwiegen und man versuchte irgendwie zu realisieren was da gerade und in den letzten Wochen passiert war. 42 Tage zuvor war ich völlig unbedarft in Irun gestartet und hatte nicht mal im Ansatz eine Ahnung davon, was in der Folgezeit mit mir passieren würde. Rückblickend weiß ich, dass mich der Camino vom ersten Augenblick in seinen Bann gezogen hat und während ich diese Worte schreibe, kommen mir direkt die Tränen. Tränen voller Dankbarkeit, Tränen der Erschöpfung, Tränen der großen Freude, Tränen der Rührung und nicht zuletzt auch Tränen der Traurigkeit. Traurigkeit, weil die großartigste „Reise“ mit der Ankunft in Santiago ein Ende gefunden hat.

Nachdem wir also lange Zeit vor der Kathedrale verbracht hatten checkten Angele und ich in unserer Pension ein und legten erst einmal unsere Rucksäcke ab. Auch zum Abschluss hatten Angele und ich beschlossen zusammen zu bleiben und so war einen Tag vorher schon klar, dass wir in Santiago gemeinsam eine Unterkunft beziehen würden. Regula entschied sich ebenfalls für eine Pension, wollte aber ein Zimmer und Zeit mit sich alleine haben. Gegen Ende meines Weges war ich aufgrund der Verletzungen sicherlich das schwächste Glied in diesem Dreiergespann und gleichzeitig haben die beiden Frauen entschieden den Weg mit mir zu Ende gehen zu wollen. Jetzt am Ende konnte ich es auch gut annehmen und ich bin froh und dankbar, dass Angele und Regula so entschieden haben. Es war mir eine Ehre und große Freude mit diesen beiden Frauen in Santiago einlaufen zu dürfen.

Nachdem wir im Pilgerbüro unsere Compostela (Urkunde) erhalten hatten ging es zunächst in die Pension zurück und unter die Dusche, ehe wir um 19:00 Uhr mit insgesamt neun Pilgern zum Abendessen verabredet waren. Nach und nach fiel der Druck ab und in einer Tapas Bar ließen wir uns nieder und schlemmten einheimische Leckereien und gönnten uns die ein oder andere Flasche Wein. Erst hier kam es überraschenderweise zur „Demaskierung“ einiger Pilger, als man sich von seinem „realen“ Leben erzählte. Der flippige Schwede mit seinem Kopftuch, dem ich immer wieder mal begegnet war entpuppte sich als Rechtsanwalt und Steve, der nette ältere Herr aus Malta ist ein Architekt und gleich nebenan saßen zwei „Aussteiger“, die gerade, wie ich auch, arbeitslos sind. Mit unseren Pilgeroutfits (Funktionskleidung) waren wir alle gleich und wir liefen kaum Gefahr das Gegenüber in eine Schublade packen zu wollen. Angele erzählte mir, dass sie bei ihrem letzten Camino zwei Tage mit zwei älteren Herren gelaufen war und mit ihnen unterwegs in einfachen Bars und in der Pilgerherberge war, ehe sie am letzten Tag erfuhr, dass die beiden Männer Millionäre waren. Der Camino ermöglicht es uns, den anderen Pilgern zunächst wertfrei begegnen zu können und so haben wir Gelegenheit die Person selbst und nicht ihren Status kennen zu lernen. Überhaupt, ich habe sechs Wochen lang keine Zeitung gelesen und mit der Ausnahme des Eurovision Song Contests auch kein Fernsehen geschaut. Stattdessen habe ich mich mit mir und anderen Menschen beschäftigt und darf berichten, dass es viele freundliche, hilfsbereite Menschen gibt. Ich möchte die Augen nicht verschließen, aber ich werde zu Hause versuchen weiterhin wenig Zeitung zu lesen und Fernsehen zu schauen. Es gibt Mißstände und negative Ereignisse und Menschen, aber ich habe in sechs Wochen ausschließlich positive Erfahrungen gemacht und dies hat mir gezeigt, dass die Welt auch ganz viele gute Seiten hat, die im Alltag oft von all den negativen Berichterstattungen und Bildern überschattet werden.

Nach dem Abendessen in der Tapas Bar zogen wir weiter von Bar zu Bar und mit jedem Glas Wein fiel immer mehr Druck von uns ab. Ich möchte nicht weiter ins Detail gehen, aber wir haben unsere Ankunft ausgelassen und feucht gefeiert.

Den nächsten Morgen wachte ich um 7:30 Uhr auf und mein Kopf schmerzte ausnahmsweise mehr als meine Beine und plötzlich realisierte ich, dass es heute keine Etappe zu laufen gab. Wie, ich sollte keinen Rucksack packen und mich auf den Weg machen? Es war sehr befremdlich und ich fühlte gleichzeitig eine Leere in mir und so stand ich auf, hüpfte unter die Dusche und ging um 8:00 raus und machte einen Spaziergang durch Santiago.

Erfahrt Morgen wie ich mit dieser Leere umgegangen bin und wie die Pilger Messe und die Verabschiedung von Angele und Regula verliefen und mit welchem Gefühl ich in den Flieger gestiegen bin und warum ich nach wenigen Minuten schon wusste neben welchem der ca. 240 anderen Fluggäste ich im Flieger sitzen würde ohne dass ich eine entsprechende Information hatte.

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