Jakobsweg

Der innere Prozess auf dem Camino beginnt

Am Morgen rebelliert alles in mir und es fällt mir schwer mich zu motivieren. Es scheint, als hätte sich die Schienbeinmuskulatur die Schmerzen von 2019 gemerkt, die mich über zwei Drittel des Camino del Norte begleitet haben. Nach nur einem Tag ist es genau wieder die gleiche Stelle. Gestern Abend hat es wieder angefangen zu schmerzen. 2019 habe ich nie gezweifelt und heute am zweiten Tag stelle ich alles in Frage. Ich laufe um 8:00 Uhr los und schon kurz hinter meiner Unterkunft in Labruge erwartet mich eine wunderschöne Landschaft, die nicht schöner hätte sein können. Ich befinde mich an einem der schönsten Orte, die ich je gesehen habe und gleichzeitig bin ich innerlich so voller Wut und Schmerz. Eine krasse Erfahrung, wenn das Außen und Innen so gar nicht zusammenpassen wollen. Ich sauge diesen Ort in mich auf und bin emotional völlig überwältigt. Ich gehe weiter, beruhige mich und mache bald meine erste Kaffeepause. Ich setze mich an den ersten Tisch mit Blick aufs Meer und genieße das Rauschen des rauen Atlantiks. Nach 20 Minuten stehe ich auf und kann meinem rechten Fuß kaum noch bewegen. Wieder scheint mein Körper sein Veto einlegen zu wollen und ich setze mich wieder vor das Café und behandle meine Fußmuskulatur, die völlig verhärtet ist. Ich kann sie wieder etwas lockern und ganz langsam weiterlaufen. Ich versuche bewusst zu atmen und die Situation darüber zu regulieren. Dann laufe ich über unzählige Holzwege am Meer entlang und plötzlich höre ich das Rauschen wieder laut und deutlich. Eine Stunde lang hat das Meer geschwiegen und mich mit mir und meinen Gedanken allein gelassen. Es scheint  ein sehr intensiver Tag für mich zu sein und so durchlebe ich im Laufe des Tages sämtliche Gefühlslagen. Am Nachmittag laufe ich stundenlang über diese Holzstege und irgendwann frage ich mich, wer all diese Unmengen an Holz kilometerlang mitten in die Landschaft gebaut hat. Was mache ich hier und warum laufe ich mutterseelenallein in Portugal am Meer entlang? Wo will ich denn hin und was ist meine Aufgabe hier? Santiago, ist das mein Ziel? Ich will ankommen, aber wo? Warum ist da immer noch dieser Schmerz und kann oder soll ich davor weglaufen? Warum sagt mein Körper nein und macht mir das Vorankommen immer wieder schwer? Am Ende bin ich 8,5 Stunden völlig alleine unterwegs und komme nach 30 Kilometern in Rio Alto bei Ferdinands Pilgerherberge an. Wenn ich heute einen Wunsch frei hätte dann würde ich gerne alleine in diesem Vierbettzimmer bleiben. Jetzt möchte ich allein sein. Wie und wo geht es morgen weiter? Diese Frage verschiebe ich getrost auf morgen.

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